Reise in die Vereinsgeschichte: Die Stuttgarter Kickers in Budapest und Wien 1920

Nach dem Sieg gegen Bremen II hier auch der 2. Teil aus der Reihe „Zeitreise in die Vereinsgeschichte“.

Dieses Mal habe ich mir ein echtes Schmuckstück herausgezogen. Ein Schmuckstück, dass vielleicht auch den derzeitigen Politikern im Stuttgarter Gemeinderat vorgelegt werden sollte. Denn das was die Herren und Damen Entscheidungsträger von den Kickers heute halten, das war nicht immer so. Aber Werte und Traditionen sind heutzutage wohl nicht mehr gefragt.

Wir reisen zurück ins Jahr 1920. Nachdem das Kickers-Stadion im ersten Weltkrieg zum Anbau von landwirtschaftlichen Erzeugnissen genutzt wurde und die Revolution in Deutschland beendet ist, beginnt der Wiederaufbau. Die Kickers holem mit Dori Kürschner einen absoluten Top-Trainer vom MTK Budapest und feiern die Wiedereröffnung ihres Stadions mit einem Privatspiel gegen MTK Budapest. Kürschner soll das ungarische Fußballspiel – damals führend in Europa – auch bei den Kickers umsetzen. Von der Jugend bis hin zur ersten Fußballmannschaft soll dies auch später den Verein prägen. Zum Anschauungsunterricht begeben sich die Kickers an Ostern 1920 auf große Reise nach Österreich-Ungarn. „Reise in die Vereinsgeschichte: Die Stuttgarter Kickers in Budapest und Wien 1920“ weiterlesen

Die Stuttgarter Kickers schlagen den Wiener Athletik-Sportklub mit 1:0. Das Spiel wird sechs Minuten vor Schluß abgebrochen. Pause 0:0

Das vierte Wettspiel, das die Wiener auf ihrer Tournee zu absolvieren hatten, kam gesten auf dem Kickersspielplatz zum Austrag. Auf Grund des guten Namens der Wiener konnte man auf einen spannenden Kampf gefaßt sein, und fürwahr, man kam auf seine Rechnung, denn abgesehen von verschiedenen unerquicklichen Szenen, brachte das Match genug des Interessanten. Kaum jemal haben Stuttgarter einem solch glänzenden Team gegenübergestanden, dessen Siel in allen Teilen durchentwickelt ist und als hervorragend bezeichnet werden muß. Daß die Wiener aber absolut keine sportliche Disziplin haben, haben sie gestern durch ihr robustes gefährliches Spiel bewiesen. Wenn wir jeden Sonntag solche Kämpfe ansehen müßten, würde der schöne Fußballsport bald seine Anhänger verloren haben. Anscheinend liebt man in Wien solche Kämpfe und solche Auftritte, die wir gestern erfahren mußten. Das dortige Publikum will es so haben. Dieser Umstand entschuldigte die Wiener einigermaßen, sie sind kein anderes Spiel gewöhnt, ihre Anhänger wollen Siege sehen, und wenn es nicht mit Gutem geht, dann müssen eben auch Mittel angewendet werden, die bei uns in Deutschland verpönt sind. Der Schiedsrichter, Herr Brucker, Sportfreunde, dem durch die Spielweise und das unsportliche Betragen der Wiener Spieler eine schwere Aufgabe gestellt war, hat sie gut gelöst.

Mit schneidigem Tempo setzten die Wiener ins Spiel ein und schon die ersten Angriffe brachten sie vor das Kickerstor. Dort spielten sich einige gefährliche Momente ab, die aber bei dem aufopfernden Spiel der Kickersverteidigung zu nichts führten. Die Stürmerreihe der Kickers fand sich nicht recht zusammen, sie konnte den Ball nicht behalten und so brachte die erste Halbzeit ein etwas überlegenes Spiel der Gäste. Die vielen Anstürme der Wiener wurden durch den starken Wind kräftig unterstützt, der es auch den Gästen möglich machte, das Spiel fast ausschließlich in der Spielhälfte der Kickers zu halten. Nach der Pause bot das Spiel ein etwas verändertes Bild, der Kickerssturm kam jetzt weit mehr zur Geltung, ein frischer Zug beseelte die Mannschaft der Einheimischen. Aus einem energischen Angriff von halbrechts erzielten die Kickers ungefähr in der 6. Minute ihr Tor. Jetzt setzten auch die Wiener wieder mit neuer Kraft ein, sie sahen zwar nicht darauf, ihren Gegner zu umspielen und vor das Tor zu kommen, sondern ihr Spiel erweckte den Eindruck, als ob sie zuerst einen Gegner unschädlich machen wollten, um dann schließlich das Spiel für sich zu entscheiden. Es gelang ihnen dies aber nicht, die Einheimischen spielten mit ihrer gewohnten Ruhe weiter, gaben lieber den Ball an den nächsten Mann ab, als sich auf solche Wiener Fußball-Ringkämpfe einzulassen. Kurz vor Schluß wollte der Schiedsrichter einen Wiener Spieler vom Platze weisen, worauf ein zweiter Wiener Spieler durch einen beleidigenden Ausdruck sich ebenfalls eine Ausweisung aus dem Spielfeld zuzog. Beide erklärten darauf, das Feld nicht zu verlassen, und so machte Herr Brucker von seinem Recht Gebrauch und brach 6 Minuten vor Schluß das Spiel ab.

Württemberger Zeitung, Seite 9, vom 30. Mai 1910