Kickers nach Cannstatt

Keiner weiß, wie unter Menschen Liebe entsteht. Biologen, Chemiker, Physiker, Prostituierte, Mediziner und andere Schamanen gehen meines Wissens davon aus, Liebe sei die Folge von Geruch. Ein Mann kann eine Frau riechen, ein Mann einen Mann oder ein Hund seinen Herrn. Der Rest ist Schicksal, Rechtsstreit, Friedhof. Man weiß es nicht.

Etwas schwieriger gestaltet sich das Thema Anziehungskraft, auch Liebe genannt, beim Fußball. Warum bändelt ein Mensch mit einem Verein an? Am guten Geruch kann es nicht liegen: Vereinspolitik stinkt, wie jede Politik, zum Himmel. Ich habe nicht vor, die Frage nach den Motiven eines Fußballfans zu beantworten. So größenwahnsinnig bin ich nicht. Ich gehe selbst zum Fußball, oft zu den Stuttgarter Kickers, und dort orientiert sich der Fan nicht am politisch begründeten Größenwahn gewisser Funktionäre. Der Fan in Degerloch lernt Demut: Er versteht etwas vom Verlieren.

Das weite Feld neben dem Platz, beispielsweise die Stehtribüne, begreift der Fan als seine Heimat. Dieses Land ist sein Land. Und nun zu Ihnen, Herr Oberbürgermeister von Stuttgart, Sie heimatloser Nichtversteher: Jetzt, da es um den Ausbau des Gazistadions auf der schönen Waldau geht, sagen Sie, die Kickers könnten bei gut besuchten Spielen „auch nach Cannstatt“ gehen. Geht“s noch?

Hintergrund ist ein hypothetisches Szenario: Die Kickers spielen in der zweiten Liga, es kommen viele Tausend Fans, das Gazistadion auf der schönen Waldau wäre zu klein. Trotzdem, Herr Oberbürgermeister, werden wir einen Dreck tun und „nach Cannstatt“ ziehen. Dort sind wir zweimal aus der ersten Liga abgestiegen. Haben Sie daran gedacht, als Sie auf Ihrem Business-Seat in der Cannstatter Vip-Lounge auf den Platz schauten? Wenn Sie nicht sehen konnten, ob ein VfB-Spieler gerade siebzig Zentimeter oder siebzehn Meter am Tor vorbeischoss, weil man in Ihrem Hammerwerferstadion noch nie richtig Fußball schauen konnte? Selbst der VfB hat Besseres verdient.

Es geht nicht darum, die schöne Waldau für die zweite Liga zu rüsten. Im Gegenteil. Als Kickers-Mann spiele ich in dieser Saison nicht um den Aufstieg in die zweite, sondern gegen den Abstieg in die vierte Liga. Aber selbst diese Tatsache gibt keinem verdammten Politiker das Recht, die Fans auch nur theoretisch „nach Cannstatt“ zu vertreiben. „Stuttgart“, Herr Schuster, „hört am Neckar auf“, singen wir. Aber das können Sie nicht verstehen: Stuttgart hört für Sie bereits am Bahnhof auf, sonst würden Sie den Neckar nicht noch stiefmütterlicher behandeln als den Nesenbach. Der Kickers-Platz auf der schönen Waldau schafft ein anderes Zugehörigkeitsgefühl als Ihr Sandhaufenstrand in der Neckargegend zu Bad Cannstatt.

Die klassische Fankultur, die Subkultur des Fußballs, ist ohnehin bedroht. Die modernen Arenen werden im Showgeschäft Fußball vom Event-Publikum überrannt, von Leuten, die nicht wissen, in welchen Szenen der geschulte Fußballfan Beifall klatscht, und zwar von Herzen.

Plätze wie das Gazistadion, von Herzen Kickers-Platz genannt, sind heute soziale Nischen. Manchmal beobachte ich sehr junge Fans auf der Stehtribüne fast mit Mitleid: Mann, denke ich, was sucht ihr in dieser Unterklassigkeit? Was macht das kleine, hübsche Mädchen mit seinen Ballettschuhen bei diesem Sauwetter im B-Block? Das ist B-Leben. Die Intimität des Rockclubs ist gelegentlich reizvoller als die Party-Euphorie der Arenashow, und selbstverständlich ist hier Pathos im Spiel. Wie aber soll Fußball ohne Sentimentalität funktionieren?

Fußballfans leiden an ihrer Clubliebe, sie nehmen sie ernst und sind extrem verletzlich. Wenn dies der Herr Oberbürgermeister nicht begreift, dann soll er doch bei Gefahr von großem Publikumsverkehr, etwa beim Thema Stuttgart 21, im Schwäbisch Gmünder Rathaus spielen. Den Geruch dort kennt er ja.

Quelle: StN

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