Kickers: vorne hui, hinten pfui
Die Schwächen in der Defensive sind nicht zu übersehen – Dem Derby droht ein Nachspiel
STUTTGART. Eigentlich ist der neue Kickers-Trainer Edgar Schmitt kein Freund von Unentschieden. Doch das denkwürdige 4:4 im Derby gegen den VfB Stuttgart II am Freitagabend nahm nicht nur er als „gefühlten Sieg“ wahr.
Von Joachim Klumpp
Im amerikanischen Profisport ist es üblich, dass sich kurze Zeit nach Spielende die Kabinentüren der Mannschaft für Funktionäre und auch Medienvertreter öffnen. Am Freitagabend nach dem denkwürdigen 4:4 im Drittliga-Derby gegen den VfB Stuttgart II hatte auch der Kickers-Trainer Edgar Schmitt kein Problem damit, die Herren aus der Vereinsführung am allgemeinen Jubel teilnehmen zu lassen. Hereinspaziert, lautete die Aufforderung, „die Mannschaft freut sich“. Zumal nicht nur die Kabine geöffnet wurde, sondern offensichtlich auch der Geldbeutel einiger Herren. Jedenfalls dürfte noch ein nettes Sümmchen in die Mannschaftskasse geflossen sein – auch wenn die Spieler nach dem zehnten Spieltag weiter auf die erste offizielle Siegprämie dieser Saison warten.
Die sei nur noch eine Frage der Zeit, sagt Schmitt. Und für die Spieler stand zunächst einmal die Erkenntnis im Vordergrund, in der entscheidenden Schlussphase ein Spiel auch mal zu ihren Gunsten drehen zu können. „Das war ganz wichtig“, sagte der Kapitän Alexander Rosen, schließlich verfolgte die Mannschaft fast schon ein Trauma. Fünfmal nacheinander hatten die Kickers in den letzten zehn Minuten sicher geglaubte Punkte noch leichtfertig aus der Hand gegeben (siehe Winkel), das prägt sich in den Köpfen ein. „Ich hoffe, dass dieser Punktgewinn jetzt die Wende war“, sagte Rosen. „So ein Auftritt muss uns Selbstvertrauen geben.“
Aber nur der nach der Pause. Denn bei aller Euphorie sollte nicht übersehen werden, dass die Kickers in der ersten Hälfte eine desolate Vorstellung abgeliefert hatten und vom VfB förmlich vorgeführt worden sind. Vor allem die Defensive fand nicht statt, und die von Trainer Edgar Schmitt propagierte Ordnung auf dem Platz erinnerte mehr an die Situation auf den Finanzmärkten: Es ging drunter und drüber. Doch der Trainer wollte sich nach der Partie nicht allzu lange mit den Defiziten aufhalten. Und durfte sich natürlich bestätigt fühlen, dass die Mannschaft seinen Offensivgeist umsetzt; ob sie allerdings immer drei, vier Tore schießt, darf doch eher bezweifelt werden.
Am Freitag wurde der Mut zum Risiko zumindest belohnt. Vorne hui und hinten pfui, so stellt sich das Spiel der Kickers derzeit da. Wer Edgar Schmitt vom VfR Aalen her kennt oder seine bisherige Arbeit in Degerloch verfolgt, der weiß nur zu gut: er lässt sich nicht von seinem Weg abbringen. Was nicht heißen soll, dass die Fehler intern nicht angesprochen werden, ganz so blauäugig ist der frühere Torjäger dann auch nicht.
Das zeigt auch das Beispiel Orlando Smeekes. Der Neuzugang, der nach seiner Einwechslung zur Pause frischen Wind brachte, bekam dennoch sein Fett weg, weil er vor lauter Hacke, Spitze eins, zwei, drei manchmal den direkten Weg vergaß. „Er spielt schon sehr kompliziert“, sagte Schmitt, „da müssen wir noch viel üben.“ Immerhin war Smeekes an zwei der vier Tore beteiligt.
Ob die Aufholjagd auch mit der zuletzt vieldiskutierten Fitness zusammenhing? Darauf sagte Alexander Rosen nur: „Die Kraft ist da.“ Kein Wunder, zumindest 45 Minuten lang hatte sich die Mannschaft ja auch ausgeruht. Doch auf ihren Lorbeeren will sie sich jetzt nicht ausruhen, auch wenn sie erst einmal zwei Tage freibekommen hat. „Das war unabhängig vom Ergebnis“, betonte Schmitt nach diesem denkwürdigen Tag – dem allerdings noch ein Nachspiel droht.
Weil aus dem VfB-Block kurz nach der Halbzeit Becher geworfen wurden, musste der Schiedsrichter die Partie kurzzeitig unterbrechen, was auch im Spielbericht vermerkt worden ist. „Ich denke, dass der DFB eine Stellungnahme anfordern wird“, sagt der Manager Joachim Cast. Und weil es sich bei den Kickers um Wiederholungstäter handelt (Stichwort Spielabbruch im DFB-Pokal), droht nun eine Geldstrafe – die allerdings nicht aus der Mannschaftskasse gezahlt wird.
Stuttgarter Zeitung
Der VfB verschenkt den Sieg
Die Körpersprache verrät Defizite
STUTTGART (ump). Der VfB-Trainer Rainer Adrion musste sich erst einmal einige Minuten in der Kabine sammeln, bevor er dieses Derby bei den Kickers verdaut hatte. Er hat ja schon viel erlebt – aber so etwas? Dass seine Mannschaft eine scheinbar sichere 4:1-Führung 20 Minuten vor Schluss noch aus den Händen gab, „Nein“.
Das verursacht natürlich Gesprächsbedarf: erst recht nach dem guten Auftritt in der ersten Hälfte, als die Mannschaft schönen, direkten Fußball spielte und sich viele Chancen erarbeitete. Doch im Gefühl des sicheren Sieges vergaßen einige Spieler dann, entschlossen zur Sache zu gehen, was Adrion nicht verborgen blieb. „An der Körpersprache hat man schon gesehen, dass die Einstellung nachließ“, sagte der Trainer und machte das zum Beispiel an den vielen verlorenen Kopfballduellen fest. Ein Ärgernis: „Dann sollen sie doch Basketball spielen, da ist Körperkontakt verboten“, kritisierte der Trainer die allzu lasche Einstellung einiger Spieler.
„Da haben wir uns von unserer schlechten Seite gezeigt“, so Adrion. Nicht zum ersten Mal in dieser Saison. Auch bei Union Berlin (1:3) und in Dresden (0:1) fehlte der körperliche Einsatz. Also gilt es daran zu arbeiten. „Wir müssen mit den sensiblen Spielern darauf hinwirken, dass das Zweikampfverhalten besser wird“, sagt Adrion, „dann können sie von mir aus in die Bundesliga – vorher nicht.“ Wer weiß, der eine oder andere Kandidat steht jedenfalls nicht nur beim VfB auf der Wunschliste. Vor allem an dem Senkrechtstarter Julian Schieber („sein 1:0 war sensationell“, sagte der Kickers-Trainer Edgar Schmitt voller Respekt) oder auch dem lange verletzte José Ikeng zeigen inzwischen andere Clubs Interesse – aus dem Bereich des Fußballs, nicht Basketballs.
Stuttgarter Zeitung
Späte Tore
Die Treffer in den letzten zehn Minuten:
Jahn Regensburg – Kickers 1:1
0:1 Rosen (84.), 1:1 Beigang (87.)
Kickers – Erzgebirge Aue 1:2
1:2 Schmidt (90.)
Rot-Weiß Erfurt – Kickers 3:2
2:2 Landeka (88.) 3:2 Bunjaku (90.+2)
Kickers – Kickers Emden 1:1
1:1 Rauw (81.)
Bayern München – Kickers 3:3
2:3 Kroos (81.), 3:3 Yildiz (90.)
Kickers – VfB Stuttgart 4:4
3:4 Vaccaro (89.); 4:4 Rosen (90.)
Stuttgarter Zeitung
Aufholjagd als Muntermacher
Kickers schöpfen nach dem 4:4 im Derby neuen Mut – Zweifel an der Qualität des Teams bleiben
Stuttgart – Was die Punkteausbeute betrifft, war es nicht der erhoffte Befreiungsschlag. Doch die furiose Aufholjagd des Fußball-Drittligisten Stuttgarter Kickers beim 4:4 (0:3) gegen den VfB II könnte bei den Blauen dennoch neue Kräfte freisetzen.
VON JÜRGEN FREY
Aus der Kabine der Blauen dröhnte ohrenbetäubender Lärm. Als die Explosion der Gefühle nicht enden wollte, kamen die Herren aus der Führungsetage der Kickers in die Katakomben des Gazistadions. Einer nach dem anderen. Wie an der Schnur gezogen. Präsident Dirk Eichelbaum, Schatzmeister Friedrich Kummer, Aufsichtsratschef Rainer Lorz, seine Mitstreiter Christian Dinkelacker und Alexander Lehmann – und zu guter Letzt noch Hauptsponsor Eduard Garcia. Alle zückten sie unter lautem Gejohle der Spieler generös ihren Geldbeutel – und der Verwalter der Kickers-Mannschaftskasse strahlte hinterher wie ein Vierjähriger vor dem Weihnachtsbaum: „Es ist ein nettes Sümmchen zusammengekommen, da werden wir in dieser Woche schön essen gehen“, sagte Benedikt Deigendesch mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Es war ein denkwürdiger Abend in Degerloch. Und auch wenn es für die Blauen im zehnten Saisonspiel nicht zum ersten Dreier gereicht hat, ein Sieg für die Moral und das Selbstvertrauen war es allemal. „Jetzt ist wieder Leben in der Hütte, so einen Muntermacher haben wir dringend gebraucht“, betonte Edgar Schmitt, der in der Halbzeit offenbar die richtigen Worte gefunden hatte. „Hier braucht keiner zu sterben, es geht nur um Fußball“, gab er seinem Team nach dem 0:3-Rückstand mit auf den Weg. Dass sein Team auch nach dem 1:4 nicht die weiße Fahne hisste, lag ein Stück weit auch am Coach selbst: Schmitt lebte die Leidenschaft an der Seitenlinie vor, peitschte sein Team mit viel Emotionen immer wieder nach vorne. Mit Erfolg. „Wenn wir so weitermachen, schaffen wir den Klassenverbleib, da bin ich mir zu 100 Prozent sicher“, erklärte Schmitt.
Bei aller Euphorie in Blau nach dem Schlusspfiff: Es wird ein langer und steiniger Weg. Denn unterm Strich drängte sich auch nach dem Derby der Verdacht auf: Die Qualität der Mannschaft reicht kaum für die dritte Liga. 70 Minuten lang präsentierten sich die Kickers erschreckend schwach und waren dem Bundesliganachwuchs der Roten in allen Belangen haushoch unterlegen. Bei den VfB-Angriffen taten sich vor allem vor der Pause Riesenlücken auf. Was auch an der Grundordnung mit der Raute im Mittelfeld lag. Kapitän Alexander Rosen war dabei in der Defensive auf sich allein gestellt. Spielmacher Bashiru Gambo und vor allem Sascha Traut, der auf der rechten Seite an der Linie klebte, halfen nicht, die Räume eng zu machen. In der zweiten Halbzeit lief es im 4-3-3-System besser. Weshalb Schmitt zumindest darüber nachdenkt, künftig öfter so spielen zu lassen. Vielleicht sogar schon am kommenden Samstag (14 Uhr) im Auswärtsspiel bei Kickers Offenbach.
Mit neuem Mut soll dort ein Dreier gelandet werden. Es wäre an der Zeit, damit die Blauen am Ende nicht dort landen, wo sich Schmitt am Sonntag bei der Partie Eintracht Frankfurt II gegen SSV Reutlingen „interessante Spieler der Heimmannschaft“ anschaute: in der Regionalliga.
Stuttgarter Nachrichten
„Dann sollen sie Basketball spielen“
VfB-Trainer Adrion stinksauer
José-Alex Ikeng prüfte beim Gang in die Kabine die Belastbarkeit des Plexiglastunnels im Gazistadion: Der Mittelfeldspieler des VfB Stuttgart schlug mit voller Wucht dagegen. Ikeng war stinksauer über dieses 4:4 bei den Stuttgarter Kickers. Genauso wie alle seine Mitspieler – und vor allem sein Trainer: „Unser Zweikampfverhalten in der Schlussphase war eine einzige Katastrophe“, schimpfte Rainer Adrion.
VON JÜRGEN FREY
Adrion machte ein Gesicht, als sei ihm beim Putten der Golfschläger gebrochen. Dann blies der VfB-Coach die Backen auf und begann seine Aussagen mit den Worten: „Ich werde jetzt versuchen, dieses Spiel sachlich zu analysieren.“ Mit zunehmender Redezeit fiel es ihm immer schwerer, das Vorhaben durchzuhalten. „Wenn meine Spieler keinen Widerstand leisten wollen, dann sollen sie doch Basketball spielen. Da ist Körperkontakt nicht erlaubt“, knurrte Adrion.
Lange Zeit hatten seine Nachwuchsasse vor 5875 Zuschauern in Degerloch die hohe Kunst der Spielkultur zelebriert. Doch gegen Ende hatten die brillanten Techniker der Willenskraft einer leidenschaftlich kämpfenden Kickers-Elf nichts mehr entgegenzusetzen. Die Roten versteckten sich. Und das wurmte Adrion gewaltig: „Keiner meiner Spieler war mehr in der Lage, kompakt zu verteidigen und in den Zweikämpfen auf die Zähne zu beißen. Wenn der Schiedsrichter noch zwei, drei Minuten länger spielen lässt, verlieren wir das Spiel noch.“ Mit der Einwechslung von Dubravko Kolinger wollte Adrion zehn Minuten vor Schluss das Zentrum verstärken. Doch der Defensivmann ging mit dem Rest der Truppe unter. Wobei der 32-Jährige seine Bundesligazeiten genauso wie Kapitän Marijan Kovacevic hinter sich hat. Die übrigen VfB-Spieler wollen noch ganz nach oben. Und für sie war das Derby äußerst lehrreich, was Adrion unterstrich: „Nur wer ständig intensiv in die Zweikämpfe geht, wird in der Bundesliga landen.“
Stuttgarter Nachrichten
Auch beim 4:4 der Stuttgarter Kickers gegen den VfB Stuttgart II hatten sich Fans der „Roten“ daneben benommen. Erst war die Partie drei Minuten unterbrochen, weil Bierbecher in Richtung Kickers-Torwart Manuel Salz geworfen wurden. Nach der Partie bewarfen Zuschauer Polizei mit Gegenständen. Den Punkt feierten die Kickers nach dem 1:4-Rückstand wie eine Wiederauferstehung. „Jetzt ist wieder Leben in der Bude. Diesen Muntermacher haben wir dringend gebraucht“, sagte Trainer Edgar Schmitt. Seine Saisonpremiere feierte Markus Ortlieb, den Schmitts Vorgänger Stefan Minkwitz aussortiert hatte. „Er hat eine gute Leistung gezeigt“, lobte ihn Schmitt VfB-Trainer Rainer Adrion war hingegen wenig begeistert nach den verschenkten Punkten. „Wir haben gute Fußballer. Es fehlt ihnen aber manchmal die nötige Härte, um dagegen zu halten.“