Es liegt mir fern, liebe Leserinnen und Leser, Ihre Lebensgewohnheiten zu stören. Aber denken Sie bitte daran: Heute ist Samstag, und bevor Sie Ihr Fichtennadelbad nehmen und Ihr Mercedes-Coupé waschen, vergessen Sie nicht, dass es auch heute um Fußball geht.
Jetzt blättern Sie nicht gleich um, es geht mir gar nicht um Fußball. Es geht mir um das Leben im Hier und Jetzt, um das Wohlbefinden in dieser verdammten Stadt, und ich weiß, dass Sie mit Waschen und Baden nichts am Hut haben, weil Ihr Hut gerade auf der Ablage Ihres Mercedes liegt.
Aber was würden Sie sagen, wenn man morgen die Wilhelma schließt? Und das Neue Schloss in die Luft sprengt? Und die Karlshöhe tieferlegt? In Ihnen würde wie neulich in den Gegnern von Stuttgart 21 das Feuer des Widerstands brennen, Sie würden eine Laterne in die Hand nehmen und diese gottverlassene Stadt erleuchten, bevor sie zur Hölle fährt. „Früher“, würden Sie sagen, „früher war alles besser.“ Das wäre zwar erstunken und erlogen, aber vielleicht wäre es ein Ansatz, alles zum Guten zu wenden.
Vor 60 Jahren, liebe Leserinnen und Leser, feierte der „100-Tore-Sturm“ der Stuttgarter Kickers sagenhafte Triumphe. Die Elf putzte Bayern München, Eintracht Frankfurt und den 1. FC Nürnberg weg. Und heute? Heute kriecht irgendwo der Null-Tore-Wurm.
Seit 30 Jahren fahre ich mit der Bahn auf die Waldau. Und ich sage Ihnen: Es gab Zeiten, da war das Naherholung pur am blauen Waldrand unterm Fernsehturm. Heute ist es purer Stress. Die Spiele sind so mitreißend, dass ich mir nach einer halben Stunde vorkomme, als stünde ich hier seit der Gründung des Vereins im Jahre 1899.
Die Welt der Waldau ist barbarisch. Sie geht nicht einfach unter, als sei die Sintflut über sie gekommen. Diese Welt lässt ihre Bewohner zappeln: Mal stehen sie bis zum Hals im Wasser, mal schwimmen sie oben wie Treibgut. Mittlerweile sind sie am Ersaufen: Die Kickers drohen unterzugehen, wenn nicht ein Wunder geschieht. Der Club ist marode. Charakterlich und wirtschaftlich ein Trümmerhaufen. Und wundern Sie sich nicht über mein geschwollenes Geschwätz: Als Fan dort oben wird man seltsam.
Womöglich werden die Kickers nächstes Jahr nicht mal mehr dritte Liga spielen. Dann kann man aus dem schönen Waldaustadion eine Autowaschanlage machen. Vorher aber werde ich mich ersäufen. Ich will mit mir im Reinen sein, wenn die Kickers-Funktionäre samt ihrem Trainer in der Hölle schmoren.
Stuttgarter Nachrichten