StZ: „Die Kickers müssen nicht in die Psychiatrie“

Der Kölner Sportpsychologe Jens Kleinert über die mentalen Probleme des Fußball-Drittligisten und wie diese überwunden werden können

Die Stuttgarter Kickers haben ein Problem: Immer wieder kassiert der Tabellenletzte der dritten Fußballliga in der Schlussphase Gegentore und gibt so Punkte ab – zuletzt beim 3:3 in Wuppertal, als die Mannschaft bis zur 88. Minute noch mit 3:1 führte. Ein Fall für die Couch? Fabian Heckenberger hat sich mit Jens Kleinert, Professor für Psychologie an der Sporthochschule Köln, über die Angst vor dem späten Misserfolg der Kickers unterhalten.

Herr Kleinert, gibt es bei Sportlern so etwas wie die Angst vor dem Gewinnen?

Das gibt es kaum, nur wenn sich vor allem Einzelsportler in einer extremen Favoritenrolle befinden. Dann kann es sein, dass der Druck, gewinnen zu müssen, zur Angst wird. Bei Mannschaften gibt es das seltener.

Dennoch verspielen die Kickers häufig in der Schlussphase wichtige Punkte, indem das Team späte Gegentreffer kassiert.

Das ist dann aber keine Angst vor dem Gewinnen, sondern Angst, das Erreichte noch zu verlieren. Also Furcht davor, das, was man sich in den bisherigen Spielminuten erarbeitet hat, wieder hergeben zu müssen. Das ist übrigens gar kein speziell sportliches Phänomen, das findet man in vielen Drucksituationen im Alltag.

Der Kickers-Trainer Edgar Schmitt spricht in diesem Zusammenhang von einer Neurose. Haben die Kickers eine Neurose?

Nein, Neurose ist ein Ausdruck aus der klinischen Psychologie und der Psychiatrie. In der Sportpsychologie kommen Neurosen nicht vor. Neurosen sind stabile Krankheitsbilder, die sich nur schwer behandeln lassen.

Nach den späten Gegentreffern zum 1:2, die Bayern München 1999 gegen Manchester den Sieg in der Champions League gekostet haben, war das Wort Trauma in aller Munde. Passt dieser Begriff besser?

Ein Trauma ist ein einmaliges, drastisches Ereignis, das mein Denken und Handeln stark beeinträchtigt. Das mag bei Bayern München vielleicht so gewesen sein. Bei den Kickers dagegen sind das ja mehrere Ereignisse – kein einmaliger, großer Schock. Aber auch der Begriff Trauma ist für den Sport eigentlich zu stark. Durch den Gebrauch solcher Worte dramatisiert und verschlimmert man die Situation meist nur.

Wie würden Sie dann das Phänomen bezeichnen?

Es geht um Angst und um Misserfolgsdenken. Je öfter ich späte Gegentore bekomme, desto eher denke ich in der nächsten Schlussphase wieder: oh nein, jetzt nur kein Tor kassieren, und ich bekomme Angst. Genau dieser Gedanke an negative Konsequenzen führt aber dazu, dass ich eine schlechtere Leistung zeige. Angst beeinträchtigt die Koordinationsfähigkeit, und ich spiele ungenaue Pässe. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch ein Gegentor bekomme. Das nennt man eine Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung – ein Teufelskreis.

Wie kann der durchbrochen werden?

Zunächst: die Kickers müssen nicht in die Psychiatrie, sondern auf den Trainingsplatz oder zur Mannschaftssitzung in die Kabine. Dort kann der Trainer verschiedene Maßnahmen ergreifen: Er kann etwa positive Erlebnisse ins Bewusstsein rufen – einen wichtigen Sieg etwa.

Das haben die Kickers in dieser Saison noch nicht vorzuweisen.

Na gut. Eine weitere Methode wäre, dass die Spieler im Training lernen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wir setzen da Selbstgespräche oder Selbstbefehle ein, die dem Spieler helfen, sich auf das richtige Ziel zu konzentrieren. Solche Selbstgespräche sind etwas Positives und motivieren.

In der nächsten Partie gegen Dynamo Dresden sollen die Spieler also laut mit sich selbst sprechen?

Nein, laut übe ich das nur im Training ein, in einem Pflichtspiel würde ich das nicht empfehlen. Das wäre wohl etwas absonderlich. Sonst ruft vielleicht wirklich jemand noch den Psychiater. Die Kickers-Spieler müssen es sich innerlich sagen – als Selbstinstruktion. Oder sie könnten sich an ein Bild eines aggressiv geführten und gewonnenen Zweikampfes erinnern.

Was hat das für einen Sinn?

Es geht bei all diesen Maßnahmen darum, das Misserfolgsdenken aus dem Kopf zu bekommen, durch irgendeinen positiven Gedanken oder Selbstbefehl. Man kann nicht an etwas Negatives und zeitgleich an etwas Positives denken. Die Spieler brauchen also einen positiven zielführenden Gedanken im Kopf, wie der genau aussieht, kann sehr unterschiedlich sein. Er muss nur den möglichen befürchteten Misserfolg verdrängen.

Der Kickers-Trainer Edgar Schmitt fordert nun die Verpflichtung eines neuen Abwehrchefs. Könnte ein von den bisherigen Ereignissen unbelasteter Spieler den anderen helfen, den Teufelskreis im Kopf zu durchbrechen?

Natürlich. Das kann die anderen Abwehrspieler anspornen und von den negativen Gedanken ablenken. Im Mannschaftssport übertragen sich Gefühle und Emotionen von Akteur zu Akteur auf dem Feld. Angst kann in einem Team ansteckend sein. Ein Spieler infiziert den anderen über seine Erscheinung, sein Verhalten. Ein neuer Mann, der Sicherheit ausstrahlt, könnte diese Ansteckungskette durchaus stoppen.

Die Kickers-Gegentore
Spieltag Ergebnis Minute

1. Spieltag 0:2 in Burghausen25./49.
2. Spieltag 0:2 gegen Düsseldorf65./.79.
3. Spieltag 0:2 in Unterhaching13./45.
4. Spieltag 0:1 gegen Sandhausen 9.
5. Spieltag 1:1 in Regensburg86.
6. Spieltag 1:2 gegen Aue5./88.
7. Spieltag 2:3 in Erfurt7./68./90.
8. Spieltag 1:1 gegen Emden81.
9. Spieltag 3:3 bei Bayern II44./81./90.
10. Spieltag 4:4 gegen VfB II8./32./44./70.
11. Spieltag 0:4 in Offenbach44./67./81./86.
12. Spieltag 2:2 gegen Berlin10./31.
13. Spieltag 3:3 in Wuppertal61./88./90.

Stuttgarter Zeitung